Hütten im Walde


Versuch einer Dorfchronik
Solide Steinbauten und   ein schiefer Turm
Weinleseferien für Schulkinder


Von Heinrich Kenstler (Mediasch)

Urkundlich wird die Gemeinde Waldhütten im Jahre 1345 zum erstenmal erwähnt. Dass sie aber
viel früher gegründet wurde, davon weiss die Sage zu berichten. Schon unter den ersten
Einwanderern, um die Mitte des XII. Jahrhunderts, soll eine aus mehreren Familien bestehende
Gruppe hier angesiedelt worden sein. Der Ort ihrer Niederlassung war ein - Urwald. Jeder
Siedler durfte so viel Land sein eigen nennen, als er zu roden imstande war. So bauten sich die
Ankömmlinge hier ihre hüttenähnlichen Häuser. Ihre Hütten im Walde. Das ist die Enträtselung
des Begriffs „Waldhütten”.

Diese erste Siedlung gelangte in der Folgezeit von drei Generationen, durch Fleiss und Ausdauer,
zu einigem Wohlstand. Durch den Mongolensturm von 1241 wurde jedoch alles vernichtet.

Die sagenhafte Überlieferung von der Gründungsgeschichte der Gemeinde, die auch einer
gewissen Romantik nicht entbehrt, hatte im Bewusstsein ihrer Einwohner tiefe Wurzeln   
gefasst. Sie kam auch darin zum Ausdruck, dass auf dem Schilde des einstigen Dorfwirtshauses,
das bis zu Ende des 18. Jahrhunderts bestand, die Inschrift: „Zur Wildhütte” zu lesen war.
Zwischen den jahren 1345 und 1605 wird der Name der Gemeinde in zehnmaliger Abwandlung:
Waldhyd, Waldhudia, Waldhayden, Waldhutta, Waldhaya, usw. bis zuletzt Waldhütt,     
geschrieben.

Dem Feinde getrotzt

Weil die Gemeinde in einem Saitental, in geringer Entfernung von der Verkehrsstrasse im Tale
der grossen Kokel gelegen, durch vorüberziehende Söldnerheere und andere kriegerische Horden
öfters überfallen und geplündert wurde, waren ihre Bewohner genötigt, Verteidigungsanlagen zu
errichten. Sie bauten in den Jahren 1350 - 1390 die festungsartige, aus Steinmauern bestehende
Kirche. Demselben Zweck diente auch die in den Jahren 1500 - 1525 ebenfalls aus Steinquadern
errichtete, die Kirche umrahmende, mächtige Ringmauer und die in diese Mauer eingebauten 5
Türme, mit ihren zahlreichen Schiessscharten und Pechnasen. Diese Anlage gab den Einwohnern
In den Zeiten der Kriegswirren eine sichere Zufluchtsstätte. Tatsächlich erwähnt die Chronik
keinen Fall, das diese Burg jemals vor dem Feind hätte kapitulieren müssen. Freilich
konnte der Feind während der Belagerung (und solche Fälle wiederholten sich öfters) die
Wohnhäuser und Stallungen nach Belieben plündern. Was aber die Bewohner dezimierte oder gar
vernichtete, waren mehr noch als die Kriegsereignisse die Seuchen, besonders die Pest, Cholera
und schwarzen Blattern, die nach solchen Belagerungen unter den Eingeschlossenen auftraten.
Nach einer solchen Belagerung soll eine Seuche solchen Ausmasses ausgebrochen sein, dass ihr
alle Bewohner, bis auf eine Magd, zum Opfer fielen.

Woher die Steine??

Es ist erstaunlich wie diese Gemeinde, die nie mehr als höchstens 1000 Einwohner zählte, so
gewaltige Steinbauten, wie Kirche, Ringmauer und die 5 Türme, aufführen konnte, zumal sich
weder in der näheren noch in der ferneren Umgebung ein Steinbruch befindet, aus dem sie das
hierzu erforderliche Baumaterial hätte holen können. Es ist anzunehmen, dass die Einwohner
diese Steine aus einer eins unbekannten weiten Entfernung, in mühseliger Arbeit, herbeigeholt
haben. Ein hervorragendes Beispiel von gegenseitiger Hilfs- und Opferbereitschaft bewiesen sie,
als Im Jahre 1794 ein Brand fast alle Häuser der Gemeinde einäscherte und alle abgebrannten
Häuser, mit gemeinsamer Kraft, im Laufe eines Jahres wieder aufgebaut werden konnten.

Eine gewisse Note von Berühmtheit gab der Gemeinde Ihr „schiefer Turm”. Wann sich dieser
eine der fünf Wehrtürme aus seiner vertikalen Lage geneigt hat, ist in der Chronik nicht vermerkt.
Fest steht jedoch, dass er sich in diesem Zustand seit Jahrhunderten befand, denn - laut
Überlieferung - wird er schon an der Wende des
18. Jahrhunderts als „schief” erwähnt. Wenn es damals auch noch keinen Tourismus im häutigen
Sinne gab, so wurde Waldhütten trotzdem von vielen „neugierigen” Fremden aufgesucht, die
eigens wegen dieser „Sehenswürdigkeit” herkamen. Er stürzte im Jahre 1916 infolge eines
Erdbebens ein.

Lesebeginn am Gallustag


Eine günstige geographische Lage Waldhüttens ermöglichte es seinen Einwohnern, schon in
frühester Zeit einen, intensiven und einträglichen Weinbau zu betreiben. Die
sonnigen Berglehnen, In ihrer ganzen Ausdehnung von 8 km Länge, boten eine ideale Gelegenheit
dafür. Der übrige Ackerboden lieferte karge Erträge. Wie jede Gemeinde des Kokeltales hatte
auch Waldhütten eine sogenannte „Berggemeinde”, eine Körperschaft, die sich ausschliesslich
mit der Bewirtschaftung der Weinberge befasste. Vorstand dieser Berggemeinde war der
„Bergrichter”. Laut den Statuten dieser Körperschaft durfte In der Zeit der Traubenreife
niemand ohne Erlaubnis des Bergrichters die Weingärten betreten. Auch die Weinlese durfte nur
an einem hierzu festgesetzten Tage - am Gallustage - (16. Oktober) beginnen.

Die jährliche Weinlese bildete im Leben der Dorfbewohner einen festlichen Höhepunkt. Es war
eine „Sehenswürdigkeit”, die fast unendlich langen Reihen der Fässern, Bütten und Bottichen
beladenen Wagen und die darauf sitzenden, mit weissen „Brustschürzen” bekleideten Männer,
Frauen und Kinder zu betrachten. Die Schulkinder hatten Weinleseferien von der Dauer einer
Woche. Während der Weinlese durften sie auch rauchen. Wer keinen echten Tabak hatte,
begnügte sich mit getrockneten  Nussblättern.

Anschliessend an die Weinlesezeit wurde auch der Wein für die im Spätherbst und Winter
abzuhaltenden Festlichkeiten, wie Kathrein- und Andreasball, Thomasnacht, Fasching und
andere gemeinsame Unterhaltungen, gesammelt. Auch für die bevorstehenden Hochzeiten
musste der notwendige Weinvorrat bereitgestellt werden. Darum hiess es in einer Strophe des
Volksliedes, in dem die Hochzeitsvorbereitungen besungen wurden:

Dea de Resser (Riesling) uch de Ast
(Mädchentraube),
Geadet lessen hoffen, Fälde mer den Hochzewenj
Lastich an de Koffen.

In mehreren Volksliedern der Weingegend wurde die mit dem Dorfleben so eng verknüpfte
Beschäftigung des Weinbaues besungen. So hiess es in einem Lied, welches in Waldhütten die
Kameradinnen der Braut an deren Verlobungsfest, bei der Überreichung des Brautkranzes
sangen:

„De Riew dae wäl en Haeldeng hun,
Wel't undersch glat net giht,
Em banjt säe un en Stiewel un,
Dat sae uch Weimern drit.
Tea bäst de
Riew, tea bäst de Riew,
Der
Stiewel äs uch ha,
Banjd dech un än, amschlanj  en fest
Und ward senj Breokt, senj Fra.'

Dass der Weinbau fast die einzige Erwerbsquelle dieser Bauern bildete, bewies eine Katastrophe,
die in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einbrach, als die „Phylloxera” genannte
Reblaus die Weingärten vernichtete. Die plötzliche Verarmung der an Wohlstand gewöhnten
Menschen, trieb sie massenhaft übers Meer, um in den Vereinigten Staaten von Amerika eine
neue Existenz zu finden. Die Einwohnerschaft von Waldhütten reduzierte sich schon in den
ersten Jahren nach dieser Katastrophe auf weniger als die Hälfte. Fast jede Familie hatte ein bis
zwei Mitglieder in Amerika. Die wenigsten von diesen sind wieder in ihre Heimat
zurückgekehrt.

Heute hat der Weinbau in dieser Gemeinde seine frühere Bedeutung eingebüsst. Er wäre auch
nicht mehr die einzige Einkommensquelle der Bevölkerung. Durch die fortgeschrittene
agrartechnische Bearbeitung des Ackerbodens konnte dessen frühere Unrentabilität ins Gegenteil
umgewandelt werden. Der Bauer findet jetzt sein Auskommen auf der heimatlichen Scholle.

NEUER WEG vom 2. Oktober 1969

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